Die
Berliner Mauer.
Symbol
und Garant einer zweigeteilten Welt
Am Ende, ihrem Ende hatten sie dann
doch Recht gehabt, die Präventiv-Strategen des real-existierenden
Sozialismus. Als sich unter "Glasnost" grundlegende Reformen im Herrschaftsbereich
des sowjetischen Kommunismusmodells abzeichneten sollte sich die große
Reform am Ende bloß als der Türöffner für die Implantation
des kapitalistischen Gesellschaftssystems erweisen. Wer Geschichte schreiben
will muß vor allem eins können: sie schnell vergessen. Innerhalb
nur weniger Monate nach Ende des Eisernen Vorhangs sprach niemand mehr
vom großen Erneuerungsprojekt "Glasnost", stattdessen hatte sich
durchgesetzt, was die Machthaber des Realsozialismus im Falle ihrer freiwilligen
Öffnung gegenüber Reformen immer prognostiziert hatten: das kapitalistische
Gesellschaftssystem würde das sowjetkommunistische ablösen.
Aus diesem Grund hatten die realsozialistischen
Regierungen die Reformversuche, Streiks und Aufstände stets unterdrückt
und je strikter sie dies taten, umso mehr trugen sie zur Attraktivität
des Gesellschaftsmodells bei, dessen Einfluß auf das eigene sie durch
Ab-
schottung und Härte verhindern
wollten. Wenn sie ihre Macht erhalten wollten, schien es zu dieser Abschottung
einerseits keine Alternative zu geben, andererseits schufen sie sich damit
neue Feinde, gegen die sie sich dann wiederum nach innen und außen
abriegeln mußten. Ein ewiger Kreislauf. Dabei war es immer die Sowjetunion,
die die Niederschlagung der Oppositionen erzwang und im Falle der Aufstände
in der DDR, Ungarn und der CSSR dabei gewaltsam selbst Hand anlegte, wohingegen
sie in Polen aus taktischen Gründen die polnische Armee einsetzte,
um die durch Stalins im 2.Weltkrieg begangenen Polen-Verrat nachhaltig
gegen das kommunistische Rußland eingestellte Bevölkerung nicht
gegen die russischen Panzer aufzubringen. Bei all den Aufstands- und Reformversuchen
stand der sowjetische Einflußbereich in Europa und damit ihr militärstrategisches
Gegengewicht auf dem Spiel. Ähnlich verhielt sich die USA in ihrem
kaltkriegerischen Dogma vom möglichen Übergewicht des kommunistischen
Systems, der cia-unterstützte Putsch in Chile und der wegen der Befürchtung
eines kommunsitischen Siegeszuges in Asien geführte Krieg in Vietnam,
der bald nur noch um der reinen Demonstration der Macht willen fortgesetzt
wurde sind zwei drastische Beispiele.
Den konservativen Kommunismus-Gegnern
im Westen hingegen ging es - zum Beispiel bei den Reformbewegungen 1968
in der CSSR- nicht um die Unterstützung eines "Sozialismus mit
menschlichem Antlitz", denn sie lehnten jede Art Sozialismus und Kommunismus
ab und fanden im Sowjetkommunismus das ideale Feindbild eines abstoßenden
Kommunismus, den sie zu propagandistischen Zwecken als Sozialismusmodell
im marxschen Sinne identifizier-
ten. Ihre Gegner aus dem realsozialistischen
Lager taten es ihnen in dieser Identifikation gleich, nur mit konträrer
Bewertung: Die Marxsche Theorie von der revolutionären Über-
nahme der hochentwickelten kapitalistischen
Produktivkräfte ignorierend behaupteten sie, der Sozialismus Osteuropas
sei jenes "Reich der Freiheit", wie es Karl Marx einst vor-
schwebte. Dabei hatte sich dieser
Sozialismus gar nicht aus einer hochentwickelten ka-
pitalistischen Produktion entwickelt,
deren Gewinn zum überwiegenden Teil nur die Pro-
duktionsmitteleigentümer einstrichen,
was nach Marx letztlich zum Aufstand der lohnar-
beitenden Massen führen sollte,
je drastischer sich dieses Ungerechtigkeits-Gefälle im Zuge einer
immer mehr Reichtum abwerfenden technischen Entwicklung zeigen würde.
Eine solche Situation hatte in den Ländern des Realsozialismus,
bevor dieser implantiert wurde, nie exisitiert. Das realsozialistische
Ursprungsland Sowjetunion hatte vor der Machtübernahme durch die Kommunisten
überwiegend aus feudaler Agrarwirtschaft bestanden und gerade erst
den Feudalismus hinter sich gelassen, die Arbeiterschaft machte gerademal
drei Prozent der Bevölkerung aus.
Von hochentwickelten industriellen
Produktivkräften konnte keine Rede sein und die mit Beginn der neuen
Ordnung einsetzende Planwirtschaft vermochte dies nicht nachzuholen. Es
fehlten ihr die Mittel und Triebkräfte des ökonomischen Wettbewerbs.
Die mobilma-
chende Zukunftspropaganda vom kommunsitischen
Paradies konnte diese Triebkräfte nie durch die mit ideologischer
Zukunftsmusik angetriebenen Motivkräfte ersetzen. Gemessen an den
genannten originären Voraussetzungen für eine sozialistische
Revolutionierung handelte es sich in Osteuropa deshalb um einen geopolitisch
verursachten Retorten-
Sozialismus, dessen fehlende natürliche
Produktivitätsdynamiken durch Ideologisierung und Gewalt kompensiert
werden sollten.
Durch den zweiten Weltkrieg und die
nach dessen Beendigung sich ergebende Aufteilung Deutschlands und Europas
an die vier Siegermächte weitete die Sowjetunion ihren eigenen Retorten-Sozialismus
auf Osteuropa aus, wo eine Situation, wie sie Marx als revolutionäre
Voraussetzung beschrieben hatte ebenfalls nicht existierte. Die dortigen
Wirtschaften befanden sich bereits vor dem Krieg nicht in jener Situation
hochentwickel-
ter Produktivkräfte, nach den
Zerstörungen durch den Krieg waren sie es noch viel weniger. Die Sowjetunion
installierte ihr Gesellschaftsmodell in Osteuropa, um ihr militärpolitisches
Territorium und ihren wirtschaftlichen Einfluss auszudehnen, damit sie
der wirtschaftlichen Isolation und potenziellen militärischen Bedrohung,
welcher sie vor und während des 2.Weltkrieges ausgesetzt war, in Zukunft
entgehen konnte.
Das sowjetsozialistische Modell
als originären Kommunismus zu identifizieren, wie es mit jeweils eindeutiger
propagandistischer Absicht sowohl die Sowjetsozialisten als auch ihre Gegner
aus dem kapitalistischen Lager taten, ruinierte die Idee des Sozialismus
und dis-
qualifizierte sogar noch jene als
sozialistische Utopisten (im Westen) oder als Konter-
revolutionäre (im Osten), die
lediglich konstatierten, daß der real-existierende Sozialismus sowjetischer
Prägung aus den wirtschaftlichen Voraussetzungen, wie sie Marx für
die Revolution beschrieben hatte, nicht hervorgegangen war und daher auch
keine sozia-
listische Gesellschaft sein konnte.
Es handelte sich dabei lediglich um einen sachlichen Befund und nicht automatisch
um eine Parteinahme für einen im Marxschen Sinne au-
thentischen Sozialismus, der ja
unter anderem mit seiner Fixierung auf die Arbeit als des Menschen angeblich
höchste Erfüllung ernsthafte Fragen aufwarf.
Die Sympathie, die die kapitalistische
Welt für die Aufstände im Osten hegte war stets geheuchelt. Ein
"Sozialismus mit menschlichem Antlitz" hätte den westlichen Gegnern
des Sowjet-Systems wegen dessen möglicher Attraktivität der gesellschaftlichen
Alternative zum Kapitalismus letztlich noch weniger gefallen wie
der die meisten Menschen absto-
ßende diktatorische Sozialismus
des sowjetischen Modells. Aber sie begrüßten auch die reformsozialistischen
Versuche zur Aufweichung der realsozialistischen Abschottung, weil
sie in die Öffnungen, die sich
daraus ergeben würden, eindringen könnten. Die Verdrän-
gung von "Glasnost" und Reformsozialismus
durch Oligarchismus und kapitalistischen Neoliberalismus nach dem Mauerfall
1989 haben dies drastisch gezeigt und den starren, machterhaltungsmotivierten
Tautologismus der realsozialistischen Mauer-Apologeten bestätigt.
In diesem Sinne ist fast alles, was sich nach dem Mauerfall in Ost- aber
bald auch in Westeuropa gesellschaftlich veränderte die letzte Realitätsbestätigung
der sow-
jetkommunistischen Ideologie gewesen.
Als die Berliner Mauer 1961 gebaut
wurde existiere sie im Grunde bereits seit Jahren. Nach Ende des 2.Weltkrieges
hatten die vier Siegermächte Deutschland und Europa im Abkom-
men von Jalta aufgeteilt. Dabei
war es der britische Regierungschef Churchill, der Stalin vorschlug, daß
er Rumänien und Bulgarien zu 90 Prozent zu seinem Herrschaftbereich
nehmen kann, dafür Griechenland zu 90 Prozent an den Westen ging.
Die übrigen 10 Prozent bebekam jeweils das Gegenüber, was aber
am Ende zugunsten einer allgemeinen 100-Prozent-Regel wieder aufgegeben
wurde. Daraufhin bildeten Westeuropa und West-
deutschland eine wirtschaftliche
und bald auch militärische Allianz mit den USA. Ost-
deutschland und Osteuropa gerieten
wie oben schon erwähnt unter die Hegemonie der Sowjetunion und ihres
planwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystems. Der dualen europäischen
Ordnung entsprach die Einbindung der beiden Gesellschaftssysteme in militärische
Blöcke, welche für militärisches Gleichgewicht sorgen sollten.
Mißtrauen und Paranoia machten dieses Gleichgewicht jedoch von Anfang
an unsicher, da jede der beiden Seiten der anderen die Absicht unterstellte,
das Übergewicht erringen zu wollen, welchem sie wiederum durch möglichst
eigenes Übergewicht (an Waffen und Einfluss auf der Welt) vorbeugen
wollten, sodaß ein permanentes Mißtrauen die Atmosphäre
prägte und häufig hochexplosiv machte. Ob diese Unterstellungen
aus realen Ängsten resultierten oder reine Propaganda waren ist letztlich
unerheblich, weil das Ergebnis in beiden Fällen dasselbe blieb: der
Versuch, die unterstellten aggressiven Überlegenheitsbemühungen
des Gegners durch eigene aggressive Handlungen in Schach zu halten.
Als 1953 in Ostdeutschland und 1956
in Ungarn Revolten gegen die Regierungen ausbra-
chen zeigte sich der Sachzwang dieses
militärischen Gleichgewichts. Die Sowjetunion fuhr mit Panzern auf
und beendete die Aufstände. Dabei hatte sie sich in Ungarn nach
dem vorläufigen Triumpf der Aufständischen zunächst gar
nicht eingemischt. Erst die mörde-
rischen Racheakte mancher der Aufständischen
an den Kommunisten rief die russischen Panzer auf den Plan und beendete
die nur wenige Tage bestehende Freiheit von der alten Regierung. Den Verlust
an osteuropäischen Territorien an den Westen, der selbst im Falle
der Neutralität des betreffenden Landes ein Velust blieb, konnte sie
aus verteidungs-
strategischen Gründen nicht
hinnehmen. Der Westen wiederum konnte in diesen Fällen nicht eingreifen,
ohne einen Krieg zu provozieren, weil sein Eingreifen das Gleichgewicht
zwischen den beiden Militärblöcken aus der Balance bringen würde.
Es handelte sich um organisiertes Patt, in welchem jede politische Veränderung
ein kriegsprovozierendes Un-
gleichgewicht heraufbeschwor. Europas
Teilung war tief und fest einbetoniert wie die Berliner Mauer, welche sie
zementierte und auch symbolisierte.
Dieselbe Tragödie sowjetischer
Einmischung in sowjethegemoniale Angelegenheiten wie-
derholte sich 1968 in der CSSR.
Im Westen wiederum sorgten Kommunistenverfolgung (vor allem in den 50er
Jahren) und brutale Niederschlagung von Arbeiterstreiks in Italien und
Frankreich für ähnliche Szenarien, nicht zu reden von den Kriegen
in Indochina und Viet-
nam, die nur geführt wurden,
weil die USA eine kommunistische Ausbreitung in Asien be-
fürchtete und nicht zulassen
wollte.
Dabei hatte die Geschichte dieses
"Dual-Systems" von vornherein ungleich begonnen. Auf westeuropäischer
Seite sorgte der Einfluß der von den infrastrukurellen Zerstörungen
durch den 2.Weltkrieg verschont gebliebenen USA für den schnellen
wirtschaftlichen Wiederaufbau der westeuropäischen Länder. Die
Amerikaner sahen in dem nach dem Krieg bedürftigen Westeuropa eine
Goldgrube für Investitionen und Absatzmärkte, die man durch Importverbote
-z.B. vom bis dato in Europa beliebten Orienttabak, der durch ame-
rikanische Tabaksorten ersetzt wurde-
noch maximierte.
Osteuropa hingegen war für
ihren sowjetischen Hegemon kein Territorium für Investition
und Export, sondern militärischer
Stützpunkt und Möglichkeit, die durch den Krieg erlit-
tenen Zerstörungen zu kompensieren.
Speziell in Ostdeutschland bediente man sich im Namen der von den Deutschen
begangenen Zerstörung der sowjetischen Wirtschaft und schaffte aus
dem sowieso schon kriegszerstörten Ostdeutschland alles
in die Heimat, was man zu brauchen glaubte: Nutztiere, Maschinen,
Fahrzeuge und ganze Werkan-
lagen. So manches davon wurde jedoch
nie benutzt.
Es zeichnete sich bald eine deutlich
differente Entwicklung ab: Westeuropa und West-
deutschland blühten wirtschaftlich
rasant auf, Osteuropa und Ostdeutschland kämpften ums Überleben
und hielten es bereits für die Ankunft im sozialistischen Paradies,
wenn niemand mehr hungern und frieren mußte. Dieses sich zunehmend
als zu mager erweisende Ideal konnte auf Dauer der Attraktivität der
westeuropäisch-kapitalistischen Gesellschaf-
ten wenig entgegensetzen außer
einen ideologisch verordneten Idealismus gegenüber der Zukunft.
Die rasant zunehmende Prosperität
Westeuropas und Westdeutschlands führte dazu, daß die Attraktivität
des ihnen zugrundeliegenden Wirtschaftssystems in dem Maße stieg,
wie der durch die differenten Start- und Systembedingungen entstandene
Unterschied im Wirtschaftsniveau wuchs. Hinzu kam im Osten die abschreckende
Wirkung des durch po-
litische Bevormundung und Verfolgung,
gesellschaftliche und wirtschaftliche Zwangskol-
lektivierung gekennzeichneten Stalinismus
der Sowjetunion. Die Fluchtwellen in den Westen begannen und die oft für
den Aufbau des Sowjetsozialismus staatssubventioniert ausgebildeten Fachkräfte
wurden von den bürgerlichen Freiheiten und dem sich abzeich-
nenden Wirtschaftswunder des Westen
gelockt, was die Realsozialisten mit zunehmender Besorgnis regisitrierten.
Zudem erzeugten die unterschiedlichen
Wirtschaftssysteme dort, wo sie sich direkt be-
rührten oft chaotische Zustände.
Beispielsweise verdiente eine Prostituierte aus Ostberlin in Westberlin
innerhalb einer Stunde soviel wie ein Ostberliner Arbeiter im ganzen Monat.
Westdeutsche Bürger deckten sich wegen des günstigen Umtauschkurses
in Ostberlin mit bestimmten Grundnahrungsmitteln ein, obwohl die dort knapp
waren. Schwarzmärkte blühten Es zeigte sich, daß
zwei völlig unterschiedlich organisierte Wirtschafts- und Ge-
sellschftsysteme mit je unterschiedlichen
Lebensstandards einen Hort permanenter Dis-
proportionen und Konflikte darstellte.
Politiker wie Eisenhower und Churchill konstatierten dies und sprachen
bereits vom die Welt teilenden Eisernen Vorhang, bevor dieser vollendete
Realität geworden war.
Schließlich machte der Osten
- erneut auf Geheiß der Sowjetunion und unter vorheriger Billigung
westlicher Politiker wie Churchill- die Schotten dicht und baute, nachdem
die
innereuropäische Grenze schon
nahezu undurchlässig war, die Berliner Mauer. Im Grunde hatte der
Sowjetkommunismus, wenn er als sowjetsozialistische Gesellschaftsordnung
weiterexistieren wollte, angesichts der Entwicklung auf Dauer gar keine
andere Wahl ge-
habt als die Grenzen komplett dicht
zu machen.
Doch statt die als Notwendigkeit
bezeichnete Einsperrung seiner Bürger im täglichen Leben zumindest
erträglich zu machen nutzte er die durch den Bau der Mauer erlangte
Macht für besonders rigide Bevormundung aus und perfektionierte die
Psychologie der Hermetik, die darauf fußte, daß jedes Zugeständnis
an den gesellschaftlichen Gegner die eigene Position schwächte und
daher als zerstörerischer Einfluß zu unterbinden war. Hinzu
kam in Ostdeutschland noch, daß die gemeinsame Geschichte, die zahlreichen
verwandt-
schaftlichen Bindungen zwischen
Ost-und Westdeutschen, der Einfluß auf die Ostdeut-
schen durch westdeutsche Medien
(Rundfunk, Fernsehen), Verwandtenbesuche, Warenpakete und die bei Übersiedlung
vorzufindenden günstigen Integrationsbedingungen als Deutscher (Sprache,
Kultur, oft auch Unterstützung durch Verwandte) die Ost-
deutschen innerhalb Osteuropas zu
einem besonders "klassenfeindanfälligen" Land mach-
ten, was die krakenhaftige Präsenz
der Staatssicherheit und den traurigen Mythos ihrer flächendeckend
betriebenen Überwachungsmethoden erklärt. Damit produzierte man
letzilich den Sprengstoff, mit dem der eigene Laden dann schließlich
in die Luft flog.
Die Mauerbauer hatten gehofft, die
wirtschaftliche Produktivität des Kapitalismus irgend-
wann überbieten und dadurch
die Restriktionen gegenüber seinen Bürgern lockern und schließlich
aufheben zu können. Aber diese Hoffnung war genauso illusorisch wie
die Ab-
sicht, auf planwirtschaftlichem
Wege die fehlenden industriellen Voraussetzungen für den Sozialismus
zu erzeugen und die Bevölkerung nicht nur mit Brot, Arbeit und Obdach
zu versorgen, sondern ihnen echte Lebensqualität im modernen und auch
kommunistischen Sinne zu ermöglichen.
Stattdessen wurde der Qualitäts-Unterschied
zwischen beiden Wirtschafts-und Gesell-
schaftsordnungen immer deutlicher
und als sich der Kapitalismus Ende der sechziger Jahre auch noch kulturell
revolutionierte und bald Popkultur und nichtautoritäre Lebensweisen
zunehmend in der Mitte seiner Gesellschaft ankamen verlor der autoritäre
Grundsiche-
rungs-Sozialismus noch deutlicher
an Attraktivität.
Die Sowjetunion, nach den wirtschaftlichen
Einbußen durch ihre Tschernobyl-Atomkraft-
werks-Katastrophe, den jahrelangen,
kostenintensiven Afghanistan-Krieg und die Totrü-
stungsstrategie des Westens wirtschaftlich
am Boden versuchte ihr System durch Re-
formbereitschaft zu retten, was
letztlich mißlang, da statt sozialistischen Reformen bald der Kapitalismus
Einzug hielt. Aber die "Glasnost"-Reformabsichten des sowjetischen
Präsidenten Gorbatschow hatten
dazu geführt, daß die massenhaften Oppositionsbewe-
gungen in Osteuropa nun nicht mehr
durch die Sowjetunion niedergeschlagen wurden und die Regierungen dort
plötzlich ohne Unterstützung durch den grossen Bruder aus Rußland
dastanden und daraufhin aufgeben mußten, wenn sie keinen möglicherweise
in einen Weltkrieg gipfelnden Bürgerkrieg provozieren wollten.
Am Ende bewies die Entwicklung nach
dem Mauerfall, daß die Machthaber des Sowjet-
kommunismus mit ihrer präventiven
Hermetik zwar recht hatten, wenn sie behaupteten, ohne diese würde
der Kapitalismus sich Einfluß auf ihr Gesellschaftssystem verschaffen
und es zu seinen Gunsten verändern, aber diese Abschottung selbst
hat die Entwick-
lungen mit provoziert, welche sie
verhindern sollte.
Die Mauer war das Symbol für
diese Hermetik. Und Berlin die Miniaturform Europas, deren aus Metallzäunen
bestehender Eiserner Vorhang von der Berliner Mauer in Betonform repräsentiert
und auch symbolisiert wurde. Daß sie nicht bloß die eigenen
Bürger ein-
sperren sollte, sondern tatsächlich
auch ein Bollwerk gegen unkontrollierte Ökonomien und im Falle eines
eskalierenden Ost-West-Konflikts sein sollte geriet bei der Focussierung
auf die Absicht der Bürger-Einsperrung oft in den Hintergrund. Die
fehlende Reisefreiheit machte die Mauer erst zu dem, als was sie dann stets
in erster Linie betrachtet wurde.
In Berlin war die Teilung Europas
und Deutschlands nicht bloß gedanklich präsent, sondern durch
die Berliner Mauer mitten in der pulsierenden Großstadt sicht- und
fühlbar. Diese Präsenz ließ sie so brutal erscheinen. Und
das, obwohl sie gar nicht gewaltsamer war als der Eiserne Vorhang, welcher
sich jahrzehntelang durch ganz Europa zog. |